Erlebnisse einer DDR-Zeitzeugin machen deutsche Geschichte für Schüler der Kaufmännischen Schulen greifbar
Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands ist ein zentrales Ereignis in der deutschen Geschichte und findet daher auch seinen festen Platz im Lehrplan des Politik- und Geschichtsunterrichts. Während viele der unterrichtenden Lehrer diese Zeit noch hautnah miterlebt haben, gehört sie für die Schüler schon in den Bereich der Geschichte.
Das war Anlass genug für Politiklehrerin Christina Voßmann, die DDR für die Schüler greifbar zu machen. Sie nutzte das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls, um in der Aula der Kaufmännischen Schulen Marburg (KSM) zu einem Gespräch mit einer Zeitzeugin einzuladen. Ziel dieser Veranstaltung war es, die Schüler einmal hautnah an den Erlebnissen dieser bewegten Zeit teilhaben zu lassen.
Die Zeitzeugin Birgit Schlicke erzählte spannend und lebendig von ihrer Jugend in der DDR und ihrer Problemen mit dem Regime. Die 32 Schüler der Fachoberschule hörten ihren Ausführungen mit Interesse zu und erkannten, dass nicht alles, was wir heute haben, selbstverständlich ist.
So musste sich Schlicke in der DDR bewerben, um auf die Oberschule zu kommen und Abitur machen zu dürfen. Auch Meinungen frei zu äußern war gefährlich, da sogar die Lehrkräfte ihre Schüler bespitzelt haben. Schlicke berichtet über ein Gespräch mit ihrer Lehrerin, die zu ihr sagte: „Unterhaltet euch in meiner Anwesenheit nicht über das Westfernsehen, das muss ich melden!“
Als ihre Eltern dann einen offiziellen Ausreiseantrag stellten, verhängte der Staat ein Bildungsverbot über die Schülerin. Sie wurde wegen des Ausreiseantrags der Eltern von der Oberschule „geschmissen“ und erhielt stattdessen ein Angebot zur Ausbildung als Baggerfahrerin oder Schweinezüchterin. Da die Eltern den Ausreiseantrag nicht zurücknahmen, folgten weitere Repressalien gegen die Familie. Mit 19 Jahren wurde Schlicke von der Stasi abgeholt und in Untersuchungshaft genommen. Sechs Monate dauerte diese Untersuchungshaft mit Ermittlungsverfahren, Verhören und Schlafentzug. Schlickes Eltern wurde zur Last gelegt, illegal Nachrichten von nicht geheim zu haltenden Informationen ins Ausland übermittelt zu haben.
Für ihre angebliche Mittäterschaft wurde Birgit Schlicke zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Als Konsequenz trat sie im August 1988 mit 19 Jahren unschuldig ihre Haftstrafe im Frauenzuchthaus Hoheneck an. Drill, Zwangsarbeit und Schikane waren dort für sie an der Tagesordnung. Auf die Frage einer Schülerin, wie sie das ausgehalten hat, nennt Schlicke drei Punkte: Die Gewissheit, unschuldig zu sein, der Wunsch, wieder mit der Familie zusammenzukommen und ihr starker Glaube. Erst der Mauerfall im November 1989 sorgte dafür, dass Schlicke als politische Gefangene aus der Haft entlassen wurde und ermöglichte ihr, mit ihrer Familie in die Bundesrepublik auszureisen.
Es wurde während des Gesprächs deutlich, wie sehr Birgit Schlicke die Zeit in der U-Haft und auf Burg Hoheneck prägten und dass sie bis heute das Verhalten der DDR ihr gegenüber vielfach nicht verstehen kann. Die Schüler, die jetzt das Alter der damals inhaftierten Zeitzeugin haben, fragten an einigen Stellen genauer nach und waren von ihren Schilderungen sehr betroffen. Schlicke bot an, gerne noch einmal an die KSM zu kommen, um an den Bericht über ihre Erlebnisse in der damaligen DDR anzuknüpfen und über ihr Leben im vereinigten Deutschland zu berichten.